Was ist Sexualität?
Die Frage, was Sexualität ist scheint auf den ersten Blick recht banal. Und doch haben mich viele Jahre in Sexualtherapie und Sexualwissenschaft eines gelehrt: Fragt man einen Menschen konkret danach, hat er/sie jeweils eine einzigartige Antwort darauf, was Sexualität umfasst, wozu Sex „gut“ (oder „schlecht“), wichtig oder unwichtig ist.
Was unter Sexualität verstanden wird, ist auch abhängig von Kultur, Religion und Zeitepoche – und ist somit ständigen Veränderungen unterworfen. Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde Sexualität als „Trieb“ verstanden: Einem Dampfkessel über einem lodernden Feuer gleich, der – ohne ein Ventil zu finden – jederzeit zerbersten könnte. Dieser Trieb wurde vor allem in Männern verortet. Frauen wurden sexuelle Gefühle entweder abgesprochen oder als „krank“ (z.B. „hysterisch“) entwertet.
Heute wird Sexualität (zumindest in unserem Kulturkreis) anders verstanden: Sexualität wird als Lebensenergie oder Ressource gesehen,
- die prinzipiell jedem Menschen zur Verfügung steht – unabhängig von Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung oder Identität.
- die den ganzen Menschen betrifft und in viele seiner Wünsche, Sehnsüchte, Gedanken, Fantasien, Entscheidungen und Handlungen mit hineinspielt.
- die gestaltet und entwickelt werden kann.
- unterschiedliche Ausdrucksformen hat.
- unterschiedlichste Bedürfnisse erfüllen kann.
- uns alle von Geburt bis zum Tod begleitet.
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Alles zum Thema Sexualität auf einen Blick
- Ausdrucksformen von Sexualität
- Warum haben Menschen Sex?
- Welcher sexuelle Typ bin ich?
- Fazit
Was sind Ausdrucksformen von Sexualität?
Viele Menschen denken bei Sex zuerst an Geschlechtsverkehr. Doch Sexualität ist wesentlich mehr:
1. Sie kann körperlich ausgedrückt und erlebt werden durch Küssen, Streicheln, Umarmen, Berühren, Selbstbefriedigung, Kuscheln, Petting usw.
2. Sie kann uns gedanklich beschäftigen mit Tagträumen, Fantasien, Schwärmereien, Wünschen- aber auch Ängsten, Schamgedanken und Sorgen.
3. Sie kann Gefühle hervorrufen und durch sie können Gefühle ausgedrückt werden: Liebe, Verliebtsein, Schwärmerei, Lust, Flirt, Intimität, Geborgensein- aber auch Angst, Wut, Unsicherheit, Langeweile und Verachtung.
4. Sie kann durch Worte und/oder Gesten ausgedrückt werden, aber so viel ist sicher: Man kann nicht nicht über Sexualität kommunizieren (auch und gerade, wenn man kein Wort darüber verliert!)
5. Sie findet auch Ausdruck in Kunst, Politik, Wirtschaft, Konsum, Glauben, sexuellen Mythen und Klischees, Wertebildern, Geschlechterrollen, Religionsvorstellungen usw.
„Sexualität ist das, was wir daraus machen!“
Dabei ist Sex in sich weder (nur) „gut“ noch „böse“. Die Psychoanalytikerin und Sexualtherapeutin Avodah Offit beschrieb Sexualität in ihrem Buch „Das sexuelle Ich“ (1980) so:
Eine teure oder billige Ware
Ein Mittel der Fortpflanzung
Eine Kommunikationsform
Eine Waffe der Aggression
(Herrschaft, Strafe, Macht, Unterwerfung)
Ein Sport
Liebe
Kunst
Schönheit
Ein Idealer Zustand
Das Böse
Das Gute
Luxus oder Entspannung
Flucht
Ein Grund der Selbstachtung
Ein Ausdruck der Zuneigung
Eine Art Rebellion
Eine Quelle der Freiheit
Pflicht
Vergnügen
Vereinigung mit dem All
Mystische Ekstase
Indirekter Todeswunsch oder Todeserleben
Ein Weg zum Frieden
Eine juristische Streitsache
Eine Art, menschliches Neuland zu erkunden
Eine Technik
Eine biologische Funktion
Ausdruck physischer Gesundheit oder Krankheit
oder einfach eine sinnliche Erfahrung.
Warum haben Menschen Sex?
Auch diese Frage scheint trivial, aber selten stellen wir sie uns selbst und einander – dabei wirken sich die Motive oder Zugänge, die wir bezüglich Sexualität haben auf so vieles aus:
- Was wir sexuell genießen, was wir ablehnen oder wozu wir (noch) keinen Zugang finden
- Mit wem wir scheinbar sexuell gut oder schlecht „zusammenpassen“
- Wie leicht oder schwer Erregung und Lust „störbar“ sind
- Warum wir bestimmte sexuelle Praktiken bevorzugen und andere weniger/ (noch) nicht
- Wofür wir uns schämen, wonach uns sehnt und wann wir von Sex enttäuscht sind
- Was wir als sexuelle Schwächen und Kompetenzen an uns erleben
- Wie wir uns als Mann, Frau, Trans- oder Inter-Person fühlen
Welcher sexuelle Typ bin ich?
Meine Kollegin aus Wien, die systemische Psychotherapeutin Katharina Hinsch, beschreibt in ihrem Facetten-Modell (2016) sechs verschiedene „Facetten“ von Sexualität: Beziehung, Emotionen, Bestätigung, Vitalität, Abenteuer und Spiritualität. Diese beschreiben verschiedene Zugänge, die Menschen zu Sexualität haben können.
Alle stellen sexuelle Kompetenzen dar, können aber auch Schattenseiten bergen, wenn sie zu einseitig ausgeprägt sind. Keine der Facetten ist „besser“ oder „schlechter“ als die andere.
Es geht NICHT um „Typen“- denn jeder Mensch „ist ein ganzer Verein“. Das heißt: Wir haben unterschiedliche Facetten, Teile, Persönlichkeiten, die je nach Situation, Gegenüber und Stimmung unterschiedlich zum Tragen kommen. Aber bestimmte Verhaltensweisen, Zugänge oder Rollen sind uns oft vertrauter, stehen „mehr im Licht“ und sind uns bewusster als andere. So entsteht das (Selbst)Bild, dass wir „so“ sind.
Die Facetten zeigen also eher, was wir bisher gut entwickelt haben und wo uns noch andere Zugänge zu Sexualität offen stehen würden, die wir vielleicht bisher eher vernachlässigt haben.
1) Beziehungsfacette
= Sex aus Beziehungsgründen, z.B.: Sex aus Gefälligkeit, Gewohnheit, in der Hoffnung auf (eine bessere) Beziehung, um den Anderen an sich zu binden, den Anderen zu bestätigen, Versprechen einzulösen, aus Verlustangst, Mitmachen zur Erhaltung der Harmonie oder die Beziehung selbst zu erneuen oder zu bestätigen.
Merkmale:
- Sexualität wird als Gradmesser für die Beziehung gesehen.
- Art und Ausmaß von Sex werden in Abhängigkeit von der Beziehungsdauer beschrieben.
- Lust scheint davon abhängig, wie harmonisch man die Beziehung erlebt.
- Hier entsteht oft die „Diagnose“ von „Lustlosigkeit“, weil Unterschiede in der Lust verglichen werden.
- Paare glauben, dass der Sex automatisch besser werden würde, wenn sie an der Beziehung „arbeiten“.
Schattenseiten:
Wenn die Beziehungsfacette zu stark ausgeprägt ist,
- ist Lust oft abhängig von der Beziehungsqualität.
- wird Sex manchmal zum „Tauschgut“ für Liebe, Miteinander, gemeinsame Aktivitäten,…
- wird manchmal die Bezogenheit zum Anderen so groß, dass man das Gefühl für die eigenen Bedürfnisse (und Grenzen) verliert.
- ist verbale und nonverbale Kommunikation über Sex oft sehr vorsichtig.
- wird „Einvernehmlichkeit“ so wichtig, dass Sex „verlangweilen“ kann.
2) Emotionale Facette
= Sex um Gefühle zu erleben oder um Gefühle durch Sex auszudrücken, z.B.: Nähe, Geborgenheit, Wärme, Zugehörigkeit, Liebe, Leidenschaft, Verschmelzung, Begehren als Folge von Schwangerschaftswünschen, aber auch Kontrolle, Hingabe, Dominanz, Aggression, Wut, Verachtung, Traurigkeit oder Trost. Auch Angst kann bis zu einem bestimmten Grad Lust erzeugen.
Merkmale:
- Stimmungen werden durch Sex intensiviert oder erzeugt.
- Man braucht Nähe, um in die Lust zu kommen oder.
- Man will Sex, um Nähe zu spüren.
- Gefühlreiche Fantasien, romantische Filme oder Literatur, Musik.
Schattenseiten:
Wenn die Emotionale Facette zu stark ausgeprägt ist,
- braucht man eine bestimmte Atmosphäre für sexuelle Lust.
- vergeht Lust bei Stress, Anspannung, Alltagsroutine oder Streit schnell.
- erlebt man weniger „spontane“ Lust (aus dem Körper heraus).
- wird Neues auszuprobieren oft als „anstrengend“ erlebt.
3) Bestätigungsfacette
= Sex, um Bestätigung zu bekommen, z.B. um sich begehrenswert, schön, jung, sexy, mächtig, liebenswert, fit, attraktiv, potent fühlen, Bestätigung der eigenen Männlichkeit oder Weiblichkeit oder der Kompetenzen als Liebhaber(in). Es geht nicht um das Ausgleichen von Defiziten, sondern um „die Möglichkeit, sich etwas Schönes zu holen“.
Merkmale:
- Beziehungsanfänge, Flirts, sexuelle Eroberungen sind besonders reizvoll.
- Die Kleidung, Gestik und Mimik ist oft besonders verführerisch und es wird Wert darauf gelegt.
- Bestätigung vom Gegenüber führt zu schneller Erregung.
Schattenseiten:
Wenn die Bestätigungsfacette zu stark ausgeprägt ist,
- ist man sehr abhängig von positiver Rückmeldung durch Andere.
- schwanken Lust und Selbstwert, wenn Sex gerade nicht so leicht zugänglich ist.
- werden nachlassende Attraktivität, sexuelle Hindernisse oder „Störungen“ (Erektion, Orgasmus,….) als bedrohlich erlebt.
- wird die Sehnsucht nach Partnerwechsel oder Affairen groß, weil man dort eher Bestätigung vermutet.
- wird Sex selbst weniger wichtig als die Eroberung.
- fühlt sich das Gegenüber oft unter Druck, bestätigen zu müssen.
4) Vitalitätsfacette
= Sex, um körperliche Lust zu spüren, z.B.: Trieb, Geilheit, Erregung, sich energievoll / prall / animalisch fühlen, Druck ablassen, Entspannung und Entladung suchen, „es brauchen“, zyklusabhängige Lust.
Merkmale:
- Die Körperwahrnehmung ist ausgeprägt und differenziert (man kann Erregung orten und beschreiben).
- Bei sportlichen Menschen ist Lust abhängig vom Ausmaß der Bewegung.
- Man erlebt mehr spontane Lust.
- Selbstbefriedigung wird oft und gerne genossen.
- Sex ist weniger abhängig von Gefühlen oder Beziehung.
Schattenseiten:
Wenn die Vitalitätsfacette zu stark ausgeprägt ist,
- ist es schwieriger, Sex und Beziehung in Einklang zu bringen.
- ist es schwieriger, Sex und „Gefühle“ (z.B. Liebe) gleichzeitig zu erleben.
- fühlen sich Partner oder Partnerin manchmal „benutzt“, wenn sie hier weniger „zu Hause“ sind.
- wird die Sehnsucht nach Partnerwechsel oder Affairen groß, weil man dort eher Bestätigung vermutet.
- wird Sex selbst weniger wichtig als die Eroberung.
- fühlt sich das Gegenüber oft unter Druck, bestätigen zu müssen.
5) Abenteuerfacette
= Sex als Suche nach Abenteuer, Neuem, Maximieren von Thrill und Spiel mit Grenzen, z.B. neue Szenarien, sexuelle Experimente, Swingerclubs, Sextoys, ungewöhnliche Orte und Praktiken, neue Pornoseiten, Rollenspiele, Ausloten von Grenzen, Sex-Workshops, etc.
Merkmale:
- Es geht weniger um die sexuelle Zufriedenheit als um die Erregung (die „Vorlust“ ist wichtiger als die Sache an sich).
- Es wird ständig nach Neuem Ausschau gehalten.
- Sexuelle Kontaktanbahnungen und das Planen von sexuellen Aktivitäten sind sehr reizvoll.
- Medien (Internet) spielen oft eine große Rolle, sowohl beim Dating als auch beim Sex.
- Enttäuschungen in der Sexualität werden oft leichter weggesteckt, da es um das Davor geht.
Schattenseiten:
Wenn die Abenteuerfacette zu stark ausgeprägt ist,
- kann es schnell zu Langeweile kommen, v.a. bei Langzeitbeziehungen.
- können bei der Suche nach immer intensiveren Reizen manchmal (auch eigene) Grenzen überschritten werden.
- kann es zu Risikoverhalten kommen (z.B. „Chemsex“= Sex mit Substanzkonsum).
- kann aus der Suche nach dem Kick auch eine Sucht werden.
- kann Langsamkeit und Sinnlichkeit manchmal weniger genossen werden.
- kann das Gegenüber unter Druck geraten, ständig etwas Besonderes leisten zu müssen.
6) Spirituelle Facette
= Sex als lebenserneuernde Kraft, als rituelle Handlung, spirituelle Erfahrung und als Ausdruck einer „höheren Kraft“, z.B. rituelle Handlungen, Tantra, früher Fruchtbarkeitszauber oder heidnisch-christliche Sexualmagie, Sex als Ausdruck der Religionszughörigkeit oder im Sinne Gottes (der Göttinnen und Götter)
Merkmale:
- Es wird ein Gefühl des „All-Eins-Seins“ angestrebt, der Transzendenz oder Seligkeit.
- Oft spielen auch Glaube, Wertebilder oder Religion eine Rolle.
- Sex wird als Ressource für Spiritualität gesehen.
Wie Hinsch (2016), erlebe auch ich es so, dass eher weniger Menschen in meiner Praxis dieser Facette eine größere Bedeutung zumessen. Oft geht es eher darum, Zugänge zur eigenen Identität zu suchen oder eine Sinnhaftigkeit von Sex, die jenseits von „Trivialem“ liegt und mehr Erfüllung bringen soll.
Daher würde ich noch eine siebente Facette als sehr wesentlich hinzufügen:
7) Identitätsfacette
= Sex zum Versichern der eigenen Identität, sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität und der eigenen Existenz an sich.
Man ist da, man lebt und man ist, wer man ist in diesem Moment. Man unterscheidet sich vom Anderen, ist nicht nur ein „Wir“, sondern ein „Ich“ und wird sich gerade darüber bewusst, in dem eigene (Körper)Grenzen berührt oder auch überschritten werden (Küssen, Penetration).
Wie wesentlich diese Aspekte für menschliche Sexualität sind, habe ich unter Sexuelle Orientierungen und Identitäten beschrieben.
Fazit für die eigene Sexualität:
Auf je mehr „Säulen“ (Facetten) die eigene Sexualität ruht
- desto weniger störbar ist Sex (durch Stress, Streit, Krankheiten und Älterwerden).
- desto mehr Zugänge findet man zu Sexualität.
- desto leichter findet man Zugänge zu unterschiedlichen Partnern und Partnerinnen.
Wichtige Anmerkung: Sexuelle Entwicklung ist eine Möglichkeit und soll nicht als Appell verstanden werden! Es ist absolut legitim und ebenfalls eine Kompetenz, das zu schätzen, was man bereits hat und genießt.
Fazit für die „sexuelle Passung“ in Beziehungen:
- In einer Beziehung treffen meist zwei Welten, zwei sexuelle „Kulturen“ aufeinander.
- Manche sexuelle Kulturen ähneln sich, dann fällt oft Kommunikation und Verständnis leichter und es entsteht das Gefühl einer Passung. Es kann aber dadurch auch zu harmonisch werden.
- Unterschiedliche Zugänge zu Sex können zwar herausfordernd sein, bringen aber auch die Chance mit sich, voneinander zu lernen und Spannung zu erzeugen.